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Alte Feindschaften im Diplomacy |
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von Simon Szykman (simon@diplom.org)
ÜBERSETZT VON TIMO MÜLLER
Obwohl Menschen ihre natürlichen Triebe überwinden können, liegt es in der
menschlichen Natur, alte Feindschaften zu bewahren. Sie sind ein natürlicher Teil des
Lebens, aber ich finde, daß sie im Diplomacy keinen Platz haben. Ich denke, daß das
Verständnis dafür eines der Dinge ist, die erfolgreiche Diplomacyspieler von weniger
erfolgreichen unterscheiden. Ich bin sicher, daß es auch Ausnahmen gibt, aber vermute,
daß es in der Regel stimmt.
Wenn du Diplomacy spielst, wirst du belogen werden. Du wirst gestabbt werden. Das mußt du
verstehen und akzeptieren. Einige Menschen akzeptieren das nicht, zumindest nicht vollständig.
Einige Menschen werden nicht mit jemandem zusammenarbeiten wollen, der sie zuvor belogen
hat. Einige Menschen werden mit jemandem, der sie in einem vorherigen Spiel gestabbt hat,
nicht einmal reden (oder ihm E-Mails schicken). Und einige Menschen gehen so weit, diese
Feindschaften in zukünftige Spiele mitzunehmen und jemandem nicht zu vertrauen oder mit ihm
nicht zusammenzuarbeiten, der sie in anderen Spielen gestabbt hat. Das ist zwecklos. Wenn du
beim Diplomacyspielen mit Leuten redest, besteht - mit seltenen Ausnahmen - die
Möglichkeit, daß du mit jemandem redest, der zuvor gelogen und gestabbt hat, auch wenn
du selbst nicht betroffen warst. Wenn du mit niemandem, der dich gestabbt hat, etwas zu
tun haben willst, weil du ihn für erwiesenermaßen nicht vertrauenswürdig hältst, aber
mit jemandem, der dich noch nicht gestabbt hat, zusammenarbeiten willst, machst du dir
selbst etwas vor. Nur weil jemand dich noch nie gestabbt hat, heißt das nicht, daß er
vertrauenswürdiger ist als jemand, der das schon getan hat. Meiner Meinung nach ist die
Bewahrung alter Feindschaften in einem Spiel oder über mehrere Spiele hinweg engstirnig.
Deshalb habe ich mich gefragt, warum Spieler alte Feindschaften bewahren. Ich kann mir
verschiedene Gründe vorstellen. Ein Grund ist, den Stab persönlich zu nehmen oder sich
von ihm verletzt zu fühlen. Also bitte, das ist doch nur ein Spiel. Wenn es so verletzend
ist, gestabbt zu werden, dann spiel es nicht. Ein anderer Grund wäre, dem Lügner/Stabber
eine Lektion zu erteilen. Der Gedanke könnte etwa so aussehen: "Wenn ich nicht mehr
mit ihm zusammenarbeite und er deswegen schlecht abschneidet, wird es ihm zeigen, daß
sich stabben nicht auszahlt, und er wird es in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr
tun." Die Schwachstelle dieses Arguments ist, daß sich stabben eben doch auszahlt.
Wieviele von hundert Diplomacypartien sind wohl zuende gegangen, ohne daß der Gewinner
einige der Verlierer gestabbt hat? Wenige. Wenn man sich nur die Alleinsiege ansieht und
überlegt, wieviele der Sieger gewonnen haben, ohne irgendjemanden zu stabben, ist die
Zahl vielleicht noch kleiner. Es ist eine Tatsache, daß es sehr schwierig ist, ein Spiel
ohne Stabben zu gewinnen, also wird es dir schwer fallen, jemanden zu überzeugen, daß
Stabben sich nicht auszahlt, indem du dich von Leuten, die dich stabben, einfach
fernhältst.
Ein anderer Grund für das Beibehalten alter Feindschaften könnte sein, ihnen eine andere
Lektion zu erteilen, nicht die, daß Stabben sich nicht auszahlt, sondern etwas wie
"ich werde es ihnen lehren, sich mit mir anzulegen". Versteht mich hier nicht
falsch. Ich will damit nicht sagen, daß du dich von den Leuten belügen, stabben und
ausnutzen lassen solltest, ohne dich darum zu kümmern. Rache ist normal, und es ist nur
natürlich, daß du jemanden, der deine Position im Spiel verschlechtert hat, untergehen
sehen willst. Aber die Feindschaft wird engstirnig, wenn jemand sich von dem Verlangen
nach Rache dazu bringen läßt, etwas zu tun, was eigentlich nicht in seinem Interesse
liegt.
Wenn du die Möglichkeit hast, jemanden, der dich gestabbt hat, untergehen zu lassen, dann
genieße es. Aber tue nicht etwas, das nicht in deinem Interesse liegt, nur um dich an
jemandem, der dich verletzt hat, zu rächen. Manchmal wird deine Position so schlimm
beschädigt, daß du schon weißt, daß du bald ausscheiden wirst. In diesem Fall ist es
nur natürlich, denjenigen, der diese Situation verschuldet hat, mit dir in den Untergang
zu reißen. Dagegen habe ich keine Einwände... ich tue es selbst ja auch. Aber jemanden
mitzureißen, wenn du selbst sicher untergehst, ist etwas ganz anderes, als dich selbst
nur um der Rache willen untergehen zu lassen, wenn ein anderer Ausgang möglich wäre.
Meine Ansicht ist, daß zu jedem Zeitpunkt im Spiel das, was von diesem Augenblick an
geschieht, viel wichtiger ist als das, was in der Vergangenheit geschehen ist - auch
Lügen und Stabs, egal ob du sie begangen oder darunter gelitten hast. Wenn ich Diplomacy
spiele, kann ich alle Differenzen mit jemandem, der mich angegriffen, belogen und gestabbt
hat, beiseite lassen, sofern es in meinem Interesse liegt, in diesem Moment so zu handeln.
Wie ist meine augenblickliche Situation? Wie sollte ich am besten handeln? Was verschafft
mir die beste Chance, meine Position zu verbessern? Das ist es, was zählt. Falls die
beste Strategie ein Bündnis mit einem Ex-Verbündeten ist, dann bin ich sofort bereit,
das zu tun.
Ich will damit nicht sagen, daß man die Vergangenheit vollständig ignorieren sollte.
Natürlich ist es eine andere Sache, wenn dich jemand immer und immer wieder belogen hat und du ihm einfach
nicht mehr vertrauen kannst. Aber wenn du das Spiel mit drei bis fünf
Nachbarn beginnst, ist es fast unvermeidlich, daß einer von ihnen dich zu irgendeinem
Zeitpunkt belügen wird oder von dir belogen werden wird. Aber oft ist ein Spieler, der
dich in diesem Spiel schon einmal belogen hat, nicht weniger vertrauenswürdig als ein
Spieler, der das noch nicht getan hat. Denke immer daran, daß diese Spieler, selbst wenn
sie dich noch nicht belogen oder gestabbt haben, wahrscheinlich früher andere belogen
oder gestabbt haben, also ist es nicht so, daß du erwarten kannst, mit Leuten umzugehen,
die einfach nicht unehrlich sein können. Du kannst dich nicht darauf verlassen, daß
jemand immer die Wahrheit sagen wird, aber du kannst dich darauf verlassen, daß die Leute
immer das tun werden, was ihnen am meisten nützt. Also gibt es, falls du mit einer anderen
Macht darin übereinstimmst, was euch am besten nützt, die Möglichkeit einer
Zusammenarbeit. Diese Möglichkeit sollte nicht von vorneherein durch eine Lüge, die
früher einmal passiert ist, verschlossen werden.
Ich habe oben schon erwähnt, daß das, was von nun an geschieht, viel wichtiger ist als
das, was in der Vergangenheit geschehen ist. Um ein Analogiebeispiel zu geben: es gibt
eine alte Grundregel des Investments, die dasselbe zeigt. Sagen wir, du hast Aktien, die
du für $100 pro Stück gekauft hast. Der Preis ist nun $50 pro Stück. Manche Leute
werden sich auf die Vergangenheit konzentrieren, den Wert von $100 pro Stück, und werden
sich weigern, ihre Aktien zu verkaufen, weil sie nicht mit Verlust verkaufen wollen. Aber
die Grundregel sagt, daß die Vergangenheit unwichtig ist; nur was in Zukunft passiert,
ist wichtig. Ein logisch denkender Investor wird im Interesse der Kunden handeln, und was
sie bezahlt haben, ist dafür unwichtig. Man muß vorwärts schauen, um
herauszufinden, was in ihrem Interesse ist, und davon seine Handlungen in der Gegenwart
bestimmen lassen. Die Aktien stehen nun bei $50 pro Stück. Wenn du denkst, daß sie
steigen werden, behältst du sie, um den Verlust wieder auszugleichen. Wenn du denkst, daß
sie fallen werden, verkaufst du sie, um einen größeren Verlust zu vermeiden. In beiden Fällen
ist für die Minimierung deiner Verluste entscheidend, wozu die verschiedenen Alternativen
in der Zukunft führen werden. Der ursprüngliche Kaufpreis hat keinen Einfluß darauf, ob
du halten oder verkaufen solltest. Das einzige, was zählt, ist, wohin sich der Preis
bewegen wird.
Dieses Beispiel ist ein bißchen vereinfacht, weil man normalerweise nicht weiß, wohin
sich die Aktienpreise in der Zukunft bewegen werden. Außerdem verkauft man unter manchen
Umständen mit Absicht trotz eines Verlustes, weil es Steuervorteile bringt, und handelt
so auch im Interesse der Kunden. Ich hoffe, ihr erlaubt mir, diesen Fall etwas zu
vereinfachen, um einen Punkt zu machen. Kurzfristig denkende Menschen haben schon eine
Menge Geld verloren, indem sie Aktien hielten, die weiter fielen, weil sie sich
auf die Vergangenheit (den ursprünglichen Preis) konzentrierten statt auf die Zukunft
(wohin der Preis sich bewegte), also sich weigerten, mit Verlust zu verkaufen, und so am
Ende sogar noch mehr verloren. Genauso, da bin ich sicher, hat jeder schon einmal ein
Spiel mit einem Alleinsieg gesehen, der hätte verhindert werden können, wenn sich die
anderen Spieler erfolgreich zusammengeschlossen hätten, um den Führenden aufzuhalten.
Das ist nicht immer der Fall, aber es ist bestimmt nicht ungewöhnlich. In vielen dieser
Fälle war das Hindernis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit eine alte Feindschaft, die
von einem oder mehreren Spielern ausging, die gestabbt oder belogen worden waren, und die
nicht fähig waren, diese Feindschaft zu überwinden und sich mit dem anderen Spieler
wieder zu verbünden, um jemand anderen von einem Alleinsieg abzuhalten.
Als ich zum ersten Mal Diplomacy spielte, litt ich an denselben Problemen, die ich hier
beschreibe. Ich vertraute Leuten, die mich gestabbt hatten, prinzipiell nicht, als ob die
anderen Mitspieler, mit denen ich verhandeln wollte, weniger fähig zu Lügen und Stabs
gewesen wären. Ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, daß das nicht wahr war, und
daß ich niemandem eine Lektion erteilen konnte, indem ich nicht mit Stabbern
verhandelte... sie waren alle Stabber! (Außer drei Leuten... okay, wenn du wirklich kein
Stabber bist, mußt du mir nicht schreieben und sagen "Du hast behauptet, daß jeder
ein Stabber ist, und ich habe noch nie jemanden gestabbt!" Ich glaube dir. Du gehörst
zu diesen drei Leuten.)
Ich spiele Diplomacy inzwischen schon seit langer Zeit. Ich kann mich nicht mehr genau
erinnern, wie lange ich brauchte, um die Lektionen über alte Feindschaften zu lernen, die
ich inzwischen gelernt habe. Aber ich weiß es jetzt besser. Und ich bin inzwischen ein
besserer Spieler als damals. Ich glaube nicht, daß die eine dieser Tatsachen sich direkt
aus der anderen ergibt, aber ich glaube auch nicht, daß sie nichts miteinander zu tun
haben. Weil ich diese Lektionen gelernt habe, konnte ich Siege verhindern, die ich als
"jüngerer" Spieler nicht hätte verhindern können, und ich konnte schon Draws
erreichen, wo ich als "jüngerer" Spieler ausgeschieden wäre wegen einer
Feindschaft, die mich davon abhielt, in meinem Interesse zu handeln. Und obwohl meine
augenblickliche Fähigkeit, mich wieder mit Feinden zu vertragen, wenn es in meinem
Interesse liegt (zum Beispiel um jemanden von einem Sieg abzuhalten), habe ich auch schon
Partien gespielt, in denen ich mit Leuten wie meinem "jüngeren Ich" zu tun
hatte. Ich war in Partien, die jemand gewann, der gestoppt hätte werden können, wenn ein
Spieler willens gewesen wäre, Differenzen mit einem Mitspieler beiseite zu lassen.
Ich gebe zu, daß es nicht immer eine so klare Situation ist. Manchmal ist der Ausgang
eines Spiels zu ungewiß, um zu wissen, was im eigenen Interesse liegt. Manchmal gibt es
keine Garantie, daß deine Offenheit für einen neuen Stab die Lage ändert, und in diesen
Fällen kannst du dich ernsthaft fragen, warum man es darauf ankommen lassen sollte. Aber
in anderen Fällen ist es jedem völlig klar, daß es keine Wahl gibt, als daß zwei
Feinde zusammenarbeiten, um jemand anderen vom Alleinsieg abzuhalten. Und in diesen
Situationen ist manchmal sogar diese Tatsache nicht ausreichend, um die Hindernisse, die
durch alte Feindschaften entstanden sind, zu überwinden. Manche Menschen bewahren alte
Feindschaften so überzeugt, daß sie eher eine Partie verlieren würden, als eine Lüge
oder einen Stab zu verzeihen.
Es gibt einen Unterschied zwischen verzeihen und vergessen. Ich sage nicht "verzeih
und vergesse". Aber es gibt einen Unterschied zwischen "vergiß, was jemand
getan hat" (dem stimme ich nicht zu) und "verzeih, wenn es in deinem Interesse
liegt" (daran glaube ich). Ein guter Diplomacyspieler weiß, daß sogar, wenn die
Dinge schlecht aussehen, der Ausgang eines Spiels selten sicher vorherzusagen ist. Wenn
man jemanden untergehen läßt und dabei selbst auch untergeht, bestraft man niemanden.
Mit jemand anderem zusammen unterzugehen ist auf keinen Fall Rache. Der Weg zu exakt
ausgeführter Rache ist nicht, selbst unterzugehen, und den anderen, wenn möglich, zu
schlagen. Manchmal kann man nicht "nicht verlieren", ohne die Differenzen mit
seinen Feinden beiseite zu lassen. Manchmal kann man nicht zu einem Punkt gelangen, an dem
man seine Feinde schlagen kann, ohne vorher mit ihnen zusammenzuarbeiten. Irgendwie kann
die Lektion, daß die Zukunft am wichtigsten ist, schwer zu erlernen sein. Hoffentlich
wird dieser Artikel helfen, manchen Menschen eine neue Perspektive zu geben.